Verlernt der Körper die Kältetoleranz im Sommer?

Wer im Winter regelmäßig ins kalte Wasser geht, weiß: Die Kälte verändert etwas im Körper. Sie macht wacher, belastbarer, klarer. Doch kaum steigen die Temperaturen im Sommer, stellt sich eine Frage, die alle Kälteschwimmer früher oder später beschäftigt:

Bleibt diese Anpassung bestehen – oder verlernt der Körper die Kälte wieder?

Die Antwort ist eindeutig. Und sie fordert heraus.

1. Ja – der Körper verlernt die Kälte. Und zwar schneller, als man denkt.

Wenn du im Sommer nicht gezielt mit Kältereizen arbeitest, beginnt dein Körper, die gewohnte Anpassung zurückzufahren. Und das bereits nach wenigen Wochen. Studien zeigen, dass die Fähigkeit zur Kältetoleranz schon nach ein bis zwei Wochen ohne Kälteexposition messbar abnimmt. Die Blutgefäße reagieren träger, der Kälteschock kehrt zurück, die Atemkontrolle verschlechtert sich.

Ein besonders relevanter Bereich ist das sogenannte braune Fettgewebe – der zentrale Mechanismus, mit dem dein Körper Wärme erzeugt. Dieses Gewebe wird durch regelmäßige Kältereize aktiviert und hilft, die Körpertemperatur stabil zu halten. Es ist energetisch aufwendig, braunes Fett zu erhalten. Wenn kein Kältereiz kommt, beginnt der Körper, es zurück zu bauen. Der Verlust passiert nicht abrupt, aber stetig – und oft unbemerkt.

Die entscheidende Erkenntnis: Wer im Sommer komplett auf Kälte verzichtet, verliert systematisch die Effekte, die er sich im Winter aufgebaut hat – inklusive der Fähigkeit, braunes Fett aktiv zu halten.

2. Der Wert von braunem Fett – kompakt erklärt

Braunes Fettgewebe ist eine besondere Form von Körperfett. Es produziert Wärme, indem es Energie verbrennt – ganz ohne Muskelzittern. Es schützt vor Unterkühlung, verbessert die Energieeffizienz und hat positive Auswirkungen auf den Stoffwechsel.

Aktives braunes Fett wird mit einem stabileren Immunsystem, verbessertem Zuckerstoffwechsel, schnellerer Regeneration und einer höheren Grundumsatzrate in Verbindung gebracht. Kurz gesagt: Es macht deinen Körper kälteresistenter, energetisch stabiler und belastbarer. Aber: Es bleibt nur aktiv, wenn es regelmäßig gebraucht wird. Und genau das ist im Sommer oft nicht der Fall.

3. Du kannst gegensteuern – wenn du willst

Neben Kaltwasserbädern, gezielten Schwimmeinheiten und einzelnen technischen oder ernährungsbezogenen Maßnahmen lassen sich weitere Ansätze nutzen, um die Kälteanpassung im Sommer zu unterstützen.

Der Besuch einer Kältekammer, in der extrem niedrige Temperaturen herrschen, kann kurzfristig intensive Reize setzen. Auch wenn diese künstlich erzeugte Kälte sich vom natürlichen Freiwasser unterscheidet, kann sie das sympathische Nervensystem aktivieren und den Verlust von Kälteanpassung verlangsamen – vor allem dann, wenn sie regelmäßig genutzt wird.

Auch über die Ernährung lassen sich unterstützende Effekte erzielen. Studien deuten darauf hin, dass bestimmte bioaktive Substanzen wie Capsaicin (aus scharfen Gewürzen), Catechine (z. B. in grünem Tee), Omega-3-Fettsäuren (z. B. in fettem Fisch, Leinöl) und sogar Koffein, etwa aus Kaffee, die Thermogenese beeinflussen können. Vor allem Koffein kann über das Nervensystem die Wärmeproduktion kurzfristig anregen und den Energieumsatz erhöhen. Alle genannten Stoffe wirken dabei nicht direkt wie kaltes Wasser – sie können aber helfen, den Stoffwechsel aktiv zu halten und die Aktivierung von braunem Fett zu unterstützen.

Regelmäßige kalte Duschen – täglich oder mehrmals pro Woche – sind ebenfalls ein wirksamer Weg, um dein Nervensystem und deine Thermoregulation aktiv zu halten. Noch wirkungsvoller sind kurze Kaltwasserbäder, zum Beispiel in einer Wanne mit Leitungswasser oder in einem schattigen Naturbecken. Schon wenige Minuten unterhalb von 18 Grad setzen wirksame Reize.

Auch gezielte Schwimmeinheiten am frühen Morgen oder späten Abend können helfen. In vielen Gewässern sind die Temperaturen zu diesen Tageszeiten deutlich niedriger – und genau dort liegt die Chance, deine Anpassung zu bewahren, ohne auf das Schwimmen verzichten zu müssen.

Wer diszipliniert bleibt, kann die Kälte sogar im Hochsommer weitertrainieren. Und ja: Studien deuten darauf hin, dass durchgehende Kältereize zu einer stärkeren Ausbildung und Aktivierung von braunem Fett führen als saisonales Schwimmen mit langen Sommerpausen.

4. Ab welcher Temperatur wirkt Wasser wirklich kalt?

Ob der Körper auf Wasser als „kalt“ reagiert hängt von mehreren Faktoren ab – unter anderem von der Wassertemperatur selbst, der Dauer des Aufenthalts, dem Aktivitätsniveau im Wasser und dem Grad der individuellen Kälteanpassung.

Wasser wirkt intensiver auf den Körper als Luft. Die Forschung zeigt:

  • Unter 20 Grad beginnt der Körper, klar auf Kälte zu reagieren

  • Zwischen 16 und 18 Grad ist der Reiz optimal für die Aktivierung von braunem Fett

  • Unter 15 Grad spricht man von intensivem Kälteinput mit starker physiologischer Wirkung

  • Ab 22 bis 24 Grad ist kaum noch ein echter Kältereiz vorhanden

  • Ab 25 Grad beginnt der Körper, sich an die Wärme anzupassen.

Für alle, die ihre Anpassung erhalten möchten, liegt der wirkungsvolle Bereich also klar unterhalb der 20-Grad-Marke. Wer regelmäßig in diesen Zonen schwimmt oder andere Kältereize setzt, kann auch im Sommer Kältetoleranz bewahren – und weiterentwickeln.

5. Gibt es ein Gedächtnis für Kälte? – Die konditionierte Thermoregulation

Verliert der Körper im Sommer wirklich alles, was er sich im Winter aufgebaut hat? Oder erinnert er sich, sobald es wieder kalt wird?

Die Forschung deutet klar darauf hin: Es gibt eine Form des thermischen Gedächtnisses. Sie wird als konditionierte Thermoregulation bezeichnet – die Fähigkeit des Körpers, nach einer Phase intensiver Kälteerfahrung schneller wieder in einen angepassten Zustand zurückzukehren, wenn der Reiz erneut auftritt.

Diese Erinnerung setzt nicht sofort ein. Sie entsteht über die Zeit – in der Regel nach einer Saison mit regelmäßiger Kälteeinwirkung. Wer ein zweites oder drittes Mal in den Kaltwasserwinter geht, merkt es deutlich: Der Körper reagiert schneller, kontrollierter, vertrauter. Der Einstieg ist kürzer, der Schock geringer, die Anpassung effizienter.

Was genau erinnert sich? Es sind die neurophysiologischen Prozesse – also die Steuerung der Hautdurchblutung, die Kontrolle der Atemreflexe, die Regulierung der Wärmeproduktion. Sie reagieren koordinierter, wenn sie bereits trainiert wurden. Auch das braune Fett zeigt diese Form der Erinnerung: Es wird nach längerer Pause schneller wieder aktiviert, wenn es bereits in früheren Kältesaisons ausgebildet war.

Und es gibt noch eine weitere Ebene: die psychologische. Wer schon viele Male im eiskalten Wasser stand, reagiert innerlich anders. Weniger Stress, weniger Angst, mehr Vertrauen in den eigenen Körper. Auch das ist Teil der Anpassung – und auch das bleibt, wenn man es über längere Zeit aufgebaut hat.

Die Schlussfolgerung: Wer sich über mehrere Winter hinweg regelmäßig der Kälte aussetzt, baut nicht nur eine tiefere Anpassung auf, sondern auch die Fähigkeit, sie nach Pausen schneller wiederherzustellen. Und wer im Sommer zumindest gelegentlich Kältereize setzt, verstärkt diesen Effekt zusätzlich.

Der Körper vergisst – aber er erinnert sich auch. Vorausgesetzt, du gibst ihm etwas, woran er sich erinnern kann.

6. Und wenn man trotzdem im warmen Wasser schwimmt?

Nicht jeder möchte im Sommer auf das Freiwasserschwimmen verzichten. Und das ist verständlich. Die langen Schwimmzüge bei Sonnenaufgang, das ruhige Gleiten durch spiegelglattes Wasser – all das gehört zur Essenz des Sommers im Freien.

Doch es bleibt eine Frage: Was wiegt mehr – der Aufbau physiologischer Resilienz oder der Genuss? Das stärkere braune Fett – oder das leichtere Lebensgefühl?

Wer im Sommer konsequent kalt bleibt, kann die Anpassung vertiefen und sich langfristig eine deutlich robustere Kältetoleranz aufbauen. Wer dagegen den Sommer nutzt, um loszulassen, wird im Herbst einen stärkeren Reizeinstieg erleben – aber profitiert von der sogenannten konditionierten Thermoregulation: Der Körper erinnert sich. Und wer schon mehrere Saisons Erfahrung mit Kälte hat, kehrt schneller in den adaptiven Zustand zurück.

Am Ende ist es keine Frage von richtig oder falsch – sondern von bewusster Entscheidung.

Fazit

Kältetoleranz ist kein Zustand, den man besitzt – sie ist ein Prozess, der gepflegt werden will. Im Sommer verlernt der Körper die Kälte, wenn er nicht gefordert wird. Wer jedoch bereit ist, bewusst Reize zu setzen, kann die Anpassung erhalten – oder sogar weiterentwickeln.

Braunes Fett, Thermoregulation, psychische Stabilität: All das bleibt aktiv, wenn du es regelmäßig ansprichst. Aber wer sich im Sommer für das warme Wasser entscheidet, verliert nicht alles – sondern verschiebt den Reizeinstieg. Denn der Körper vergisst nicht vollständig. Er reagiert schneller, wenn er sich erinnert.

Die Frage ist nicht, was du darfst.
Sondern: Was willst du behalten – und worauf bist du bereit, zu verzichten?

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Vier Jahre. Jeden Tag. Schwimmen. Und was das mit mir gemacht hat

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