Vier Jahre. Jeden Tag. Schwimmen. Und was das mit mir gemacht hat
Ich habe nie bewusst entschieden, vier Jahre lang jeden Tag zu schwimmen. Es hat sich einfach ergeben. Erst waren es ein paar Wochen, dann ein Monat, dann dachte ich: Ach, du bist ja schon eine ganze Weile täglich im Wasser. Und dann bin ich einfach weitergeschwommen.
Wenn ich ehrlich bin, schwimme ich schon seit fünf oder sechs Jahren fast jeden Tag. Nur ganz selten habe ich unterbrochen – und diese Tage kann ich wahrscheinlich an zwei Händen abzählen. Aber seit vier Jahren ist es wirklich täglich. Kein einziger Tag ohne Wasser.
Und ich merke: Ich brauche einen Moment, um das zu begreifen.
Nicht als etwas, das ich geschafft habe – sondern als etwas, das mit mir passiert ist. Etwas, das mich geformt hat, ohne dass ich es groß geplant hätte. Und genau deshalb schreibe ich diesen Beitrag. Nicht um eine Leistung zu feiern. Sondern um mir selbst die Frage zu stellen:
Was hat sich eigentlich verändert? Und warum mache ich das überhaupt?
1. Ich kämpfe nicht mehr gegen alles - aber ich weiß, wann ich es noch tue
Früher habe ich oft diskutiert. Gerechtigkeit eingefordert. Dinge zurechtgerückt. Ich hatte das Gefühl, ich muss immer handeln, eingreifen, klären. Heute bin ich stiller geworden. Ich lasse mehr stehen. Ich gehe öfter einen Schritt zurück.
Aber ich will nichts beschönigen: Ich kämpfe natürlich immer noch. Wenn mir etwas wirklich nicht gleichgültig ist. Nicht immer, wenn ich verletzt werde. Ich wähle meine Kämpfe bewusster.
Ob das durch das Schwimmen kommt? Vielleicht. Wahrscheinlich. Im Wasser kämpft man nicht. Man lässt sich tragen – oder geht unter. Ich glaube, ich habe dort etwas gelernt, was sich langsam in mein Leben geschlichen hat.
2. Es ist kein „Durchhalten“. Es ist einfach da.
Viele denken, ich müsse wahnsinnig diszipliniert sein, um das vier Jahre durchzuhalten. Aber das trifft es nicht. Ich habe nichts durchgehalten. Ich bin einfach immer wieder gegangen. Es war nie eine Frage, ob ich gehe – nur: wie und wo. In die Halle? In den See? Kalt, warm, Wind, Regen?
Es gibt fast nie inneren Widerstand. Das Schwimmen gehört zu meinem Morgen wie der Kaffee davor. Es ist einfach da. Ich habe es nicht geplant. Ich vermisse es sofort, wenn ich es mir nur theoretisch wegdenke. Und trotzdem gibt es da diese eine Frage, die ich mir selbst ungern stelle:
Würde ich das auch tun, wenn ich es nicht teilen würde?
3. Die Community – Begleitung, nicht Bedingung
Ich poste fast jeden Tag ein Bild in meiner Story. Ich sage guten Morgen. Ich lasse andere teilhaben. Und ja – das ist auch Motivation. Nicht der Beifall, nicht das Gesehenwerden an sich. Aber das Gefühl, dass es da draußen Menschen gibt, die sich mitfreuen. Oder Kraft schöpfen. Oder einfach ein kleines Ritual mit mir teilen.
Das war nicht immer so. Gerade in der ersten Zeit meines Streaks war ich viel für mich. Ich habe nicht jeden Tag gepostet. Die Community ist mitgewachsen. Ein Teil des Weges. Nicht der Ursprung. Nicht die Bedingung. Aber eine Verstärkung. Und ich weiß: Heute würde ich auch ohne posten weiter schwimmen – weil ich weiß, wie gut es mir tut. Und trotzdem ziehe ich etwas aus dem Teilen. Das gehört dazu.
4. Ich bin sensibler geworden – nicht härter
Ich bin kälteresistenter, klar. Ich halte mehr aus. Ich kann länger bleiben, auch wenn es weh tut. Aber gleichzeitig bin ich viel sensibler geworden. Ich spüre schneller, wenn mein Körper nicht im Gleichgewicht ist. Ich kann kaum noch darüber hinwegsehen, wenn etwas nicht stimmt. Das Wasser hat mir eine Art feine Wahrnehmung geschenkt.
Es gibt auch Tage, an denen ich mir etwas vornehme – eine Strecke, eine Zeit in der Kälte – und dann merke ich mittendrin: Heute geht es nicht. Dann höre ich auf. Früher hätte ich durchgezogen. Heute gebe ich auch mal nach. Und frage mich dann, ob das Stärke ist – oder Schwäche. Ich weiß es nicht.
5. Mein Tag beginnt im Wasser – und ist ohne nicht vollständig
Ich stehe früh auf. Trinke einen Kaffee. Und dann gehe ich schwimmen. Das ist mein Rhythmus. Im Winter in der Halle oder draußen am See. Im Sommer nur draußen. Es gibt keinen anderen Anfang für den Tag. Es ist nicht verhandelbar.
Wenn ich mir vorstelle, einen Tag nicht zu schwimmen, fühlt sich das unvollständig an. Leerer. Unruhiger. Es fehlt dann etwas. Ich könnte vielleicht sogar körperlich unruhig werden. Weil das Atmen fehlt. Weil das Eintauchen fehlt. Weil das Tieferwerden fehlt.
6. Die Natur ist mein zweiter Grund
Ich schwimme auch wegen der Natur. Vielleicht sogar vor allem deshalb. Ich sehe morgens in den Himmel und weiß, wie sich das Licht im Wasser spiegeln wird. Ich kann Stimmungen erkennen, bevor ich losgehe. Ich weiß, ob ein Film heute gut werden wird. Ich spüre, ob es ein besonderer Tag ist – oder einfach nur ein stiller.
Ich liebe das Licht, den Nebel, die Luft über dem Wasser, die Kälte, die Vögel, den Wind. Ich bin draußen mit mir allein. Ich kann meine Gedanken ordnen. Manchmal bleibe ich einfach nur sitzen. Und es gibt Tage, an denen ich fast nicht reingehe, weil das Sitzen am Wasser schon alles ist.
7. Das Wasser gehört zu mir – so wie das Atmen
Ich kann nicht genau sagen, was die Essenz dieser vier Jahre ist. Ich suche sie noch. Vielleicht ist es nicht ein großes Learning, sondern eine stille Gewissheit:
Das Wasser gehört zu mir.
Ich spüre es an meinen nassen Haaren, die stundenlang nicht trocknen. Ich spüre es an der Wärme nach dem Kältebad. An der Ruhe im Kopf. Am Staunen, dass jeder einzelne Tag sich neu anfühlt – obwohl ich doch immer das Gleiche tue.
Es ist kein Wunder. Kein Ziel. Kein Sieg. Es ist ein Teil meines Lebens.
8. Jeder Tag ist ein Geschenk – und ich weiß, dass es nicht selbstverständlich ist
In den letzten Wochen ist mir mit einer Intensität bewusst geworden, die mich manchmal zu Tränen rührt: Dieses tägliche Schwimmen, das so sehr Teil meines Lebens geworden ist, könnte jederzeit enden. Nicht aus Mangel an Motivation oder Willen, sondern weil das Leben unvorhersehbar ist und Umstände eintreten könnten, die mich daran hindern, ins Wasser zu gehen.
Dieses Wissen tut weh. Es hat etwas Bitteres. Und gleichzeitig macht es mich wach.
Jeder Tag, an dem ich schwimmen kann, ist ein Geschenk. Wenn ich aus dem Wasser steige, erfüllt mich eine tiefe Dankbarkeit. Ich denke: Du durftest heute wieder diesen besonderen Moment erleben. Es ist nicht selbstverständlich, und gerade dieses Bewusstsein macht jeden einzelnen Tag so kostbar.
Diese Mischung aus Dankbarkeit und der schmerzlichen Erkenntnis der Vergänglichkeit hat mein Verhältnis zum Schwimmen vertieft. Es ist mehr als eine Routine; es ist ein tägliches Innehalten, ein bewusstes Erleben des Augenblicks, ein stilles Feiern dessen, was ist – und ein ehrliches Annehmen dessen, was sein könnte.
9. Ich bin nicht mehr bereit, mich zu verbiegen
Ich war nie wirklich Mainstream. Ich galt früher eher als unangepasst, manchmal auch als unbequem. Das war nicht immer einfach – für andere, aber auch für mich selbst. Heute ist mir vieles egal geworden. Nicht im Sinne von Gleichgültigkeit, sondern im besten Sinn von: Ich lasse mich nicht mehr anpassen.
Ich gehe mit nassen Haaren und zitternd vom Wasser in den Supermarkt, trage meinen abgenutzten Wärmemantel, ohne zu überlegen, wie das aussieht. Es ist mir egal, was andere über mich denken – solange sie nicht Teil meines Lebens sind.
Was sich noch verändert hat: Ich grenze mich klarer ab. Leider nicht überall, aber häufiger als früher. Ich sage deutlich Nein, wenn mir etwas nicht passt. Ich gehe einfach, wenn etwas übergriffig wird. In den ersten Jahren auf Instagram und meines Swimstreaks war das nicht so. Ich habe mir Unerhörtes gefallen lassen – auch Dinge, die nie hätten passieren dürfen. Meine Grenzen und ein Nein wurden nicht respektiert; Manipulationen, Erpressungen, Drohungen. Das würde mir heute nicht mehr passieren.
Ich habe gelernt, dass nicht jede Öffentlichkeit ein Recht auf Nähe bedeutet. Und dass meine Grenze nicht mehr verhandelbar ist.
Fazit:
Vielleicht liegt die Veränderung nicht darin, dass ich mich verändert habe – sondern wie tief ich heute weiß, wer ich bin. Ich war nie wirklich angepasst. Aber heute bin ich weniger bereit, mich zu erklären. Weniger bereit, zu diskutieren, zu rechtfertigen, mich zu verdrehen.
Das Wasser hat mich nicht neu gemacht – aber es hat etwas freigelegt. Eine Klarheit, die früher leiser war.
Wenn du bis hierher gelesen hast – danke. Vielleicht schreibst du selbst auch. Oder hast ein anderes Ritual, das dir Halt gibt. Vielleicht ist dieser Text nicht nur für mich.
Aber vor allem war er für mich selbst. Weil ich diese Fragen brauche. Weil ich wissen will, warum ich morgens ins Wasser gehe – und warum ich das hoffentlich noch viele Jahre tun werde.